Wir sitzen in einem fahrenden Untersatz, aber eigentlich befinden wir
uns viel eher in einer Art Vorhölle, eine die Freitagnacht, zwischen Frankfurt
und Marburg tagt und darüber entscheidet, ob man dich zur Erholung in einen
geschlossenen, rosa Raum oder doch lieber in ein einsames Retreat schicken
sollte. Keine Ahnung, wer das nachher entscheidet, aber fest steht, die Gefahr
durchzudrehen steigt pro Fahrgast und Fahne. Der ganze Zug ist eine einzige
Fahne, in der drei Millionen Fahnenträger quasi Mund an Mund stehen. Der
fahrbare Untersatz schwankt verdächtig, die Insassen fallen reihenweise um und
verdächtig nahe in meine Comfortzone. Durch diesen Umstand bedrängt, ballt
nicht nur mein ebenfalls tendenziell betrunkener Mitfahrer seine Faust. Ich
stelle mir vor ich wäre auf einer einsamen Insel, während die 2,5 Promiller
anfangen den halben Zug auseinander zu nehmen. Sie schmeißen mit vollen
Bierdosen und rempeln ihre eh schon relativ deformierten, relativ fettleibigen
Körper gegeneinander. Dabei schreien sie „heeey“, „eeyyyy“, „booar“, „auf die
Fresse?“ und andere Äußerungen die es schaffen, gleichzeitig sexistisch, homophob,
chauvinistisch, rechtspopulistisch, ausländerfeindlich und ordinär zu sein. Ok,
wenn man kurz nachdenkt, ist es gar nicht so schwer alle diese Kategorien
gleichzeitig zu vergeben. „Relativ dumm“ ist jedenfalls, nachdem ich launenhaft
alle möglichen anderen Adjektive leise vor mich aufzähle, die Überkategorie die
es kurz zusammenfasst. Ich lächele über diese Weisheit, da höre ich einen der
dicken Wampen neben mir wieder schreien „ey!“ damit bin diesmal ich gemeint.
„ja bitte?“ frage ich höflich und vermute mich dabei direkt als einzig
Nüchterne im ganzen Zug geoutet zu haben. Es folgt ein Schwall Kategorie dumme
Wörter, mein Sitznachbar ist kurz davor der Wappe, die ein viel zu enges
Fußballs-Shirt ziert, einen ordentlichen Tritt zu verpassen. Ich mache ihm vorsichtig den
Vorschlag vielleicht lieber auf eine kleine Traumreise zu gehen, aber als Antwort rollt er nur mit den Augen. Auch er hat einige Biere getrunken, ist vermutlich
aber immer noch nüchterner als dieser fahrbare Untersatz jemals war. Die fünf
Fussballfans, denen hin und wieder ein Bier-, Spuck- und oder Kotzfaden aus dem
Mund hängt, fangen wieder an zu diskutieren. Welcher Verein hat bessere Chancen
auf einen Abstieg, welche Stadt ist hässlicher, welches Bier billiger. Ich lausche und versuche gleichzeitig völlig desinteressiert zu wirken. Scheitere damit. „ey! Is
alles nur Spasss!“ nähern sich die Bierspucker immer wieder mir und meinem
Pommes essenden Sitznachbar, der bei jedem Majotropfen auf seiner Jacke einen erneuten Lacher kassierte und jetzt grimmig neben mir hängt. „is Spasss, der muss verstanden werden“, „is ja
kein ernst, ist ja nur Jux...“. Das Abteil nickt kollektiv mit dem Kopf. "will ja niemand Ärger, hamwa ja schon genuch!" schwadroniert einer der Meute, der in der nächsten Sekunde einfach vorne über fällt. Die
Spuckenden lachen, fühlen sich bestätigt, krakeelen weiter durch die
vorweihnachtlich-besinnliche Weihnachtsnacht. Der Rest – hunderttausend Weihnachtsmarktgänger, denen hin und wieder ein Glühwein-, Spuck- und oder
Kotzfaden aus dem Mund hängt – schaut andächtig bis belustigt, immer nur so
lange bis ein Stück Fußballspucke an ihre glitzernde Wange fliegt. Dann schauen
die mit Glühwein verklebten Münder plötzlich ziemlich säuerlich drein, wagen es
aber nicht etwas zu sagen, schütteln nur vorsichtig ihre mit Mützen behangene
Köpfe. Manchmal hört man nur ein leises Stöhnen und ein fast lautloses Wimmern. Auch sie hatten es
sich irgendwie ganz anders vorgestellt.
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Kurz vor knapp ins neue Jahr gekommen, dass (laut astrologischen Vorhersagen meiner Mutter) ab September (schon) wieder viel lustiger, spontaner und zweifelsfreier wird. Na Halleluja!