Mittwoch, 21. Januar 2015

"hatten wir uns irgendwie ganz anders vorgestellt"



Wir sitzen in einem fahrenden Untersatz, aber eigentlich befinden wir uns viel eher in einer Art Vorhölle, eine die Freitagnacht, zwischen Frankfurt und Marburg tagt und darüber entscheidet, ob man dich zur Erholung in einen geschlossenen, rosa Raum oder doch lieber in ein einsames Retreat schicken sollte. Keine Ahnung, wer das nachher entscheidet, aber fest steht, die Gefahr durchzudrehen steigt pro Fahrgast und Fahne. Der ganze Zug ist eine einzige Fahne, in der drei Millionen Fahnenträger quasi Mund an Mund stehen. Der fahrbare Untersatz schwankt verdächtig, die Insassen fallen reihenweise um und verdächtig nahe in meine Comfortzone. Durch diesen Umstand bedrängt, ballt nicht nur mein ebenfalls tendenziell betrunkener Mitfahrer seine Faust. Ich stelle mir vor ich wäre auf einer einsamen Insel, während die 2,5 Promiller anfangen den halben Zug auseinander zu nehmen. Sie schmeißen mit vollen Bierdosen und rempeln ihre eh schon relativ deformierten, relativ fettleibigen Körper gegeneinander. Dabei schreien sie „heeey“, „eeyyyy“, „booar“, „auf die Fresse?“ und andere Äußerungen die es schaffen, gleichzeitig sexistisch, homophob, chauvinistisch, rechtspopulistisch, ausländerfeindlich und ordinär zu sein. Ok, wenn man kurz nachdenkt, ist es gar nicht so schwer alle diese Kategorien gleichzeitig zu vergeben. „Relativ dumm“ ist jedenfalls, nachdem ich launenhaft alle möglichen anderen Adjektive leise vor mich aufzähle, die Überkategorie die es kurz zusammenfasst. Ich lächele über diese Weisheit, da höre ich einen der dicken Wampen neben mir wieder schreien „ey!“ damit bin diesmal ich gemeint. „ja bitte?“ frage ich höflich und vermute mich dabei direkt als einzig Nüchterne im ganzen Zug geoutet zu haben. Es folgt ein Schwall Kategorie dumme Wörter, mein Sitznachbar ist kurz davor der Wappe, die ein viel zu enges Fußballs-Shirt ziert, einen ordentlichen Tritt zu verpassen. Ich mache ihm vorsichtig den Vorschlag vielleicht lieber auf eine kleine Traumreise zu gehen, aber als Antwort rollt er nur mit den Augen. Auch er hat einige Biere getrunken, ist vermutlich aber immer noch nüchterner als dieser fahrbare Untersatz jemals war. Die fünf Fussballfans, denen hin und wieder ein Bier-, Spuck- und oder Kotzfaden aus dem Mund hängt, fangen wieder an zu diskutieren. Welcher Verein hat bessere Chancen auf einen Abstieg, welche Stadt ist hässlicher, welches Bier billiger. Ich lausche und versuche gleichzeitig völlig desinteressiert zu wirken. Scheitere damit. „ey! Is alles nur Spasss!“ nähern sich die Bierspucker immer wieder mir und meinem Pommes essenden Sitznachbar, der bei jedem Majotropfen auf seiner Jacke einen erneuten Lacher kassierte und jetzt grimmig neben mir hängt. „is Spasss, der muss verstanden werden“, „is ja kein ernst, ist ja nur Jux...“. Das Abteil nickt kollektiv mit dem Kopf. "will ja niemand Ärger, hamwa ja schon genuch!" schwadroniert einer der Meute, der in der nächsten Sekunde einfach vorne über fällt. Die Spuckenden lachen, fühlen sich bestätigt, krakeelen weiter durch die vorweihnachtlich-besinnliche Weihnachtsnacht. Der Rest – hunderttausend Weihnachtsmarktgänger, denen hin und wieder ein Glühwein-, Spuck- und oder Kotzfaden aus dem Mund hängt – schaut andächtig bis belustigt, immer nur so lange bis ein Stück Fußballspucke an ihre glitzernde Wange fliegt. Dann schauen die mit Glühwein verklebten Münder plötzlich ziemlich säuerlich drein, wagen es aber nicht etwas zu sagen, schütteln nur vorsichtig ihre mit Mützen behangene Köpfe. Manchmal hört man nur ein leises Stöhnen und ein fast lautloses Wimmern. Auch sie hatten es sich irgendwie  ganz anders vorgestellt.

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Kurz vor knapp ins neue Jahr gekommen, dass (laut astrologischen Vorhersagen meiner Mutter) ab September (schon) wieder viel lustiger, spontaner und zweifelsfreier wird. Na Halleluja!