Freitag, 23. Oktober 2015

How not to get lost in Marseille!


Marseille fühlt sich im ersten Moment so französisch an wie Bockwurst. Dann stellt sie sich als wunderbare Hafenstadt vor, die multikulturell, künstlerisch und großstädtisch ist, aber auch still und erholsam sein kann. Zum Beispiel wenn man in einer einsamen Fischerbucht mit Blick auf die laute und - für französische Verhältnisse -dreckige Stadt schaut und immer noch in Marseille ist, wenn man einen der vielen grünen Aussichtspunkte erklimmt oder Ausflüge in die Umgebung wagt. Marseille erinnert an viele andere Städte und wandelte sich von einer Gangsta-Ville zu einem (noch relativ unbekannten) Urlaubsort mit Seifengeruch in den U-Bahn-Stationen. Meine Eindrücke und Lieblingsorte habe ich hier als kleinen Reiseguide zusammengefasst. 

Auf dem Weg vom Bahnhof zur Ferienwohnung kommt es mir so vor, als hätte ich einen Abstecher in ein arabisches Land gemacht. Auf den kleinen Gassen sitzen Männer, zwischen Handy-Läden, Schneidereien und Imbissbuden, trinken Tee und starren auf unsere kurzen Röckchen und tiefe Ausschnitten. Das Viertel Belsunce (unterhalb des Bahnhofs Saint Charles bis zum Hafen und der Einkaufsmeile La Canabiére) ist lebendig, aber auch relativ Frauen-frei. Von der perfekten Verschleierung in pink über massenweise importierte Birkenstocks zu günstigen kleinen Läden, die von Obst bis Fotoautomaten alles haben und anbieten (aber manchmal weit über das Haltbarkeitsdatum hinaus). La Canabiére ist eine überfüllte Einkaufsmeile mit wenig Charme und austauschbaren Läden, an der man sich allerdings gut verorten und orientieren kann. Während es östlich der Rue de Rome viele kleine afrikanische Geschäfte gibt, sind die westlichen Seitenstraßen der Canabiére eher kommerzieller Mainstream. Süd-östlich der Canabiére am Marché de Noailles findet man ein buntes  - möglicherweise zerquetschendes - Marktleben


Am Vieux Port (alter Hafen) bekommt man frischen Fisch und gute Fotomotive und kann  von dort aus wunderbar über den Quai du Port die Ober- und Altstadt erkunden. Für mich ist Le Panié(nördlich, oberhalb des alten Hafens) eine perfekte Mischung aus Granada und Lissabon, zu dem ein Hauch seifig-französischer Flair gemischt wurde. Durch die kleinen Gassen auf und ab zu wandern, die kleinen teils skurrilen und künstlerischen Läden abzuklappern und sich irgendwo einen Café zu genehmigen, sollte ein jedermanns/ jederfraus Tagesplan sein, wenn es einen nach Marseille verschlägt. Wunderbar Ausruhen kann man sich zum Beispiel auch am Fuße des Le Panier, im "Cup of tea" (Salon de thé -Librairie- Café) in der Rue Caisserie 1. Im Vieille Charité (in der Rue de la Charité), einem ehemaligen Hospiz, befindet sich heute ein interessantes Museum und Kulturzentrum mit wechselnden Ausstellungen. Davor befindet sich einer der potentiellen Ausruh-Kaffee-Plätze. 

Im Szene- und Ausgehviertel Cours Julien (zwischen der Metro Noailles und dem Notre Dame du Mont), das früher eher zum düsteren Gangsta-Marseille gehörte, kann man in einem der zahlreichen Cafés oder Bars wunderbar (und relativ günstig!) den Abend ausklingen lassen, den Kakerlaken im Sommer mein erschrecken der Sitznachbarn oder bei einem spontanen Konzert zusehen. Vorsicht sei vor allem bei Vollmond geboten, wenn Druffis und Suffis aufeinander fallen. Ansonsten hatte ich in Marseille weniger Angst vor Mensch und Gewalt, sondern eher vor riesigen Monster-Ratten die mit Einbruch der Dunkelheit (im Hochsommer) die Stadt vereinnahmten. In diesem Sinne: watch your steps!

Wenn man genug Zeit hat, sollte man auf alle Fälle einen Ausflug zu den Inseln Les îles direkt vor der Bucht vor Marseille machen. Während die kleinste der Insel hauptsächlich aus der Burgruine Château d'If besteht, kann man auf der Zwillingsinsel îles du Frioul kleine Wanderungen zu wunderbaren Calanques (kleine Buchten) machen und im türkisen und unglaublich klaren Wasser der Calanque de Saint Estéve baden. Die karge und fast unbewohnte Natur der Insel  könnte außerdem prima als Filmkulisse für Western, Aktion -Blockbuster oder griechischen Dramen fungieren. Boote nach Frioul fahren ca. alle halbe Stunde vom alten Hafen (südliche Seite) ab.

Weitere Marseille-Hightlights und Erholungsorte findet man unterhalb der Kernstadt in den Fischerorten Les Goudes oder Callelongue. Von Les Goudes kann man außerdem bis zur südlichsten Spitze Cap Croisette von Marseille laufen (30min) und hat dort eine großartige Sicht aufs Meer und weitere kleine Inseln. Für Wanderungen in abgelegenen Calanques sollte man (im Sommer) immer erst überprüfen ob diese auf Grund der hohen Waldbrandgefahr in der Gegend überhaupt begehbar sind. Dafür ruft man am Besten eine (auch englisch sprachige) Hotline am Abend (ab 19 Uhr) vor dem Ausflug an, auch die Touristeninformation hat die Infos für eine mögliche Sperrung erst am Vorabend. Zu den Orten gelangt man am Schnellsten mit Bussen (Nummer 19 nach Madrague) ab dem Verkehrsknotenpunkt Rond-Point du Prado (der auch eine große U-Bahn Station hat), die auch zum großen Stadtstrand Plage du Prado fahren. An der Endhaltestelle von La Madrague steht dann ein weiterer Bus (No. 20) bereit, der einen über eine kurvige Straße über Les Goudes bis nach Callelogne bringt. 
Auch ein langer Strandspaziergang am Plage du Prado entlang bis zum Pointe Rouge (immer Richtung Süden) eignet sich als nette Abwechslung zum innerstädtischen Leben. Vom (im Sommer teilweise übervollen) Strand bietet sich ein toller Blick auf die genannten Les îles und man hat zahlreiche Möglichkeiten mal eben ins klare Wasser zu hüpfen
Wenn man länger als zwei Tage in Marseille verbringt, sollte man sich am Anfang direkt in eins der vielen Fotoautomaten (z.B. in Belsunce) setzen, kurz lächeln und dann in eine der Schlangen in den U-Bahn-Stationen stellen. Dort bekommt man für unschlagbare 13€ für eine Woche lang eine Metro- und Bus-Karte, die in der kompletten Marseille-Region (bis zu den abgelegenen Fischerorten) gültig ist. 


Vielleicht zum Abschluss noch ein paar Worte zu meinem Lieblingsthema Essen. In Frankreich ist (gut!) Essengehen teuer (20€ pro Gericht aufwärts), so dass man sich überlegen sollte, vielleicht lieber eine Übernachtungsmöglichkeit mit Küche zu nehmen. So kann man die Abende mit ausschweifenden Kochaktionen zelebrieren und hat am Ende des Urlaubs immer noch ein paar Kröten für frische Croissants und ein noch warmes Baguette am Morgen übrig. Oder shoppt ein paar Seifen (Marseille ist DIE Seifen-Stadt schlecht hin) und bringt jedem, der es verdient hat eine Flasche Pastis (Marseille ist DIE Anis-Schnapps-Stadt) mit. In diesem Sinne: fröhliches Betrinken…. äh Abenteuer! 


Sonntag, 13. September 2015

Es krieselt.


Es ist Tag X deines Lebens und du stellst dir tatsächlich immer noch die gleichen Fragen. Sie fangen mit einem leichten Kopfschmerz, Juckreiz und Schluckbeschwerden an und enden mit übertriebenem Durchfall. Der Mist will raus und weiß sich nicht anderes zu helfen. „Die Gesellschaft ist schuld“ zu denken hilft da nicht viel, denn ich weiß es ja eigentlich besser. Die Krise ist eine Wechselwirkung aus eigenen Anteilen und Umwelteinflüssen und ja, höchstwahrscheinlich hat sie auch Auswirkungen auf meine Bindungsfähigkeiten. Zusammen mit den weiter gegebenen Repräsentanzen und unbewussten Fantasien meiner Mutter, die nicht nur ihre Feinfühligkeit sondern auch meinen Geist vernebeln, plus meinem Trieb oder schöner formuliert meinem Temperament, sozioökonomische Umstände nicht zu verachten, erklärt es eigentlich alles. Also wahrscheinlich auch die Krise. Die fröhliche Aussicht, dass Menschen wie ich wahrscheinlich nie unter einer Midlife-Crisis leider werden, wirkt vermutlich wenig aufheiternd, wenn wir stattdessen unserer halbes Leben krieseln. Wie schlechte Milch im Kaffee oder gute Milch im Saft. Wir haben einen seltsamen Beigeschmack der wahrscheinlich auch die ganzen somatischen Beschwerden ausreichend erklärt. Zu diesen kommt das ständige Gefühl denn Sinn des Lebens nicht erkennen zu können, oder schlimmer, dass Leben an sich nicht verstanden zu haben. Obgleich man seit sieben Jahren zumindest zeitweise für Erwachsen erklärt wurde, hat man nun den Eindruck, dass es sich bei dem Begriff Erwachsensein um einen Reinfall handelt, der mit ständigen Zukunftsfragen und Ängsten gekoppelt ist. Alle W-Fragen die man anderen nie stellen soll, stellt man sich selbst zu jeder Tag und Nachzeit. Ich wache schweißgebadet auf und frage mich „Was will ich?“. Auch wenn ich seitenweise Listen angefertigt habe, auf denen genau diese Frage beantwortet wurde, finde ich keinen adäquaten Umgang mit meinen ambivalenten Antworten. Manchmal sehe ich mich als Aussteiger mit einem Berg an Lindt-Schokoladen und faserarmen Mangos in einem Baumhaus sitzen, das eine extra heiße Regendusche und einen Infinitypool besitzt. Manchmal sehe ich mich in einem Garten mit Kind, das einen Blumenkranz trägt und im Planschbecken herumhüpft. Es braucht immer eine Weile bis ich dieses Kind als mich selbst – 1992 – identifiziere. Meine Lebensvorstellungen haben sich dabei kaum weiter weiterentwickelt. Als Kind wollte ich Tänzerin, Walretterin oder Modedesignerin werden, alles gleichzeitig! Meine Inspiration hatte ich damals schon von lebhaften Fotos oder romantischen Filmen, in denen eine Frau durch ihr Talent und Engagement berühmt (aber einsam) wurde. Manchmal ertappe ich mich auch heute noch dabei, wie ich die Vorstellung, mit einem Helikopter auf meinem alten Schuldach zu landen immer noch recht verlockend finde. Aber ich habe mich auch mit dem Einsam-sein weitestgehend abgefunden. So sollte es in meinem Baumhaus deshalb auch ausreichend Platz für Übernachtungsgäste und ein extra großes Bett geben. Wo ist die Sinnhaftigkeit? Wo das Identitätsgefühl? Die Quarter-Life-Crisis scheint bild und taub zu machen. Der Sinn der fast überall drin steckt, wird unsichtbar, langweilig, trüb und grundsätzlich hinterfragt. Schwimmend im Kriesel-Wasser sehen alle Anderen so aus, als hätten sie einen aufgehenden Lebensplan. So, als wäre man der einzige postmoderne Krüppel. Klar, kenne ich die Statistiken, aber das ändert nichts am Krisenherd. Die offensichtlich sehr Ich-bezogene Suche nach einem Sinn, verstärkt sich bei echten Krisen der Menschheit, wie Hunger, Armut und Flucht, denn spätestens jetzt wird klar: man ist ein verdammter Narzisst. Einer der Mal den Eindruck hatte, die ganze Welt könne von ihm gerettet oder zumindest umgekrempelt werden und dann feststellt, dass das Leben gewöhnlich einen anderen Sinn verfolgt. Angefangen bei so Lappalien wie Mangos essen – natürlich die faserarmen.



            

Mittwoch, 12. August 2015

Schön bunt und fröhlich vor sich hin konsumieren




Wir fahren 1,5 Stunden mit dem Zug und dann noch mal fast 5 Stunden mit dem Auto, bis wir dann kurz vor dem Ziel - direkt vor dem Eingang ins viel umwobene Wunderland – zum Stehen kommen. Wir stehen ganze 4 Stunden bis wir im Nieselregen endlich unser Zelt aufbauen können. Eine der vielen Druffi-Bühnen beschallt vor allem unser Zelt stelle ich mit nüchternem Blick fest, so dass wir, wenn wir uns hinlegen, fast ein bisschen von alleine tänzeln. Aber das macht nichts, denn ich hatte ja beschlossen, mich von nun an einfach drauf einzulassen und mit dem Rumpampen endlich aufzuhören. Ich hatte mich gut vorbereitet und ein paar Stunden vor Abfahrt sogar noch einmal ein paar Einpack-Listen gelesen. Ich hatte sogar ein Erste-Hilfe-Set besorgt! Darüber machen wir jetzt natürliche alle paar Minuten Scherze. Jeder würde Scherze machen, wenn er sechs Stunden in einem Auto voller fünf Menschen und voller fünf Festivalmonturen gequetscht wäre. Da macht man nur noch Scherze und versucht damit seine Gliedmaßen bei Laune zu halten! 

Alleine während der vierstündigen Wartezeit auf dem Rollfeld hat sich mein komplettes Kippenkonsum des bisherigen Jahres verzehnfacht, unseren halben Proviant für die kommenden 3 Tage aufgefressen und alle fünf Minuten nach einer Umarmung gebettelt. Aber macht nichts, denn meine liebevoll bemalt und verzierten Fingernägel machen sich in der verwirrenden bunten Welt besonders gut und auch meine Leo-Gummistiefel scheinen genau die richtige Wahl gewesen zu sein. Auch die ersten Dixi-Erlebnisse gestalten sich weitaus weniger traumatisch als angenommen, es gibt sogar Klopapier! Und meine Augenringe und Fetthaare sind schon allein deshalb weniger schockierend, weil es fast nirgendwo Spiegel gibt. Als ich dann am nächsten Morgen im stinkenden Zelt aufwache, ist es mir tatsächlich fast egal, dass der übrig gebliebene Restproviant als Frühstück einfach nur ekelhaft schmeckt. Bis ich dann merke, dass „alle anderen“ die feinsten Bioprodukte auspacken und ich für allein für Müsli einen schiefen Blick beim Einkauf geerntet hatte, während Mann weiter Würste in den Einkaufswagen legte. Aber egal, denn das gibt ja vielleicht ein paar Extra-Umarmungen und Mitleidsküsse. Um vier Uhr mittags laufe ich statt geküsst „mutterseelenallein“ und ohne jegliche Form von Mitleid über das Gelände, dass am Tag tatsächlich viel weniger romantisch und viel mülliger aussieht als nachts. Ich laufe planlos aber immer gegen die Masse an, was ich im Hinblick auf die Massenwanderungen Richtung Mini-See für wirklich mutig halte. Heute war ich schon gefühlte 10 Mal auf irgendwelchen „Toiletten“, für die ich locker den halben Tag anstehen musste. Und dann nicht mal scheißen konnte! Als ich irgendwann müde und voller Kloimpressionen an meinem Zelt ankomme, ist mein Zelt abschlossen. Weil wir ja sicher sein wollten. Also lege ich mich elegant in zwei der luxeriösen Campingstühle und stelle mich tot bis ein Dealer vorbei schneit und mir LSD, MDMA und Grass verkaufen will. Während mein Zeltnachbar aus seinem Zelt kommt und eine Ladung Pillen kauft, schüttele ich meinen blonden Fett-Kopf zufrieden in der Abendsonne. Als irgendwann wieder alle unter unserem Pavillon versammelt sind, es ein paar Bindfäden regnet und wir über die nächsten hunderttausend Acts sprechen die anstehen, fühlt es sich ein bisschen so an, als wäre die von den Veranstaltern beabsichtigte Parallelwelt geglückt. So als wären wir alle ein glückselig vor sich hinkonsumierendes Volk, dass niemals jemanden Schaden zufügen wird. Trotzdem liegt überall Müll. Trotzdem stinkt die Scheiße von uns in den Dixiklos Kilometer weit. Aber das macht nichts, denn wir haben uns. Und den Alkohol. Und die Zigaretten und ein bisschen Gras. Was braucht es mehr? 

Um kurz vor zwölf stehe ich vor einem Act dessen Name ich schon wieder vergessen habe in der bunten glitzernden Menge und verziehe schmerzerfüllt mein Gesicht. Mein Rücken tut so weh, dass ich weder stehen noch gehen kann, aber Liegen in dieser Masse irgendwie auch wegfällt. Ich leide so lange still vor mich hin, bis mir irgendwann Tränen über die Wangen fließen und ich gequält ins Zelt schleiche. Vorher mache ich noch einen Abstecher auf dem „WC-Royal“ - auf dem es Kloschüssel, Waschbecken und Spiegel gibt – und betrachte mein 25. Jähriges Ich. Es sieht Scheiße aus und kommt kaum mehr von der Kloschlüssel hoch. 

Am nächsten Morgen wache ich vor lauter Tief-Schlaf-Phasen motiviert auf und denke: „Macht nichts, ich habe ja noch Magnesium-Vitamin-C-Vitamin-B-Tabletten“. Außerdem ist heute endlich unser Proviant alle und wir können unser Geld endlich in richtiges Essen investieren. Also konsumieren wir alles war nicht teurer als 5 Euro, vegan und super fröhlich ist. Mein Bauch wächst dabei kontinuierlich und parallel zu den WC- und Dixi-Klo-Schlangen. Die Versöhnung dieser Schlange-steh-Kultur finde ich der Gemeinschaft unterm Pavillon, dem Bindfäden nichts abkönnen und unter dem sowohl Äppler, als auch Rum viel besser schmecken. Die Laune ist solange ekstatisch bis plötzlich alle Kippen alle sind! Und der Tabak! Und nirgendwo kann man neues kaufen! Als dann noch alle wo anders hin wollen scheint die Gruppendynamik Eskalation-gefährdet. Aber macht nichts, denn ich befinde mich in einem Zustand heiterer bis unnatürlicher Gelassenheit und tanze mit allem mit. Um Punkt 3 ist dieser Zauber, so plötzlich er gekommen war, wieder vorbei. Verwirrt schlurfe ich über das Gelände und frage mich nach dem Sinn des Massenphänomens, das speziell sein will. Das anders sein will, alternativ und glitzernd, aber trotzdem die Masse tanzen lässt. Tag und Nacht. Die Sehnsucht nach einer bunten, fröhlichen Welt, bei der trotzdem an Flüchtlinge, Umwelt und Unterdrückte gedacht werden soll, erscheint mir zunehmend absurder. Die Schilder an den Zelten, auf denen nach Drogen gebettelt werden, zeigen viel eher ein Bild, dass sich nicht gerade nach Realitätssinn sehnt. Aber macht ja nichts! 

Als am letzten Morgen Menschen Müll suchend durch die Gegend schleichen und ich genervt das Zelt abbaue, weil ich Zelte insgeheim schon immer gehasst habe und die Sonne auf unsere quadratischen Köpfe prallt, freue ich mich verstohlen auf mein Bett. Bis zu diesem spießig aber wohligen Zustand werden noch Stunden vergehen. Wir stehen in der prallen Sonne und zur Aufheiterung macht Mann mit mir Rätselspiele. Ich fühle mich wie zehn. Bis nach Potsdam brauchen wir drei Stunden. Als wir in der vermeintlichen Zivilisation – an der nächsten Raststätte – ankommen, ist die Klo-Schlange schon wieder Kilometer lang. FestivallantInnen und RenterInnen drängeln, fluchen und machen sich gegenseitig für das Dilemma verantwortlich. Wir fressen alles was über 5 Euro kostet und ungesund aussieht, während die Männer  immer noch an die Zäune pissen. Als wir trotzdem noch völlig ausgehungert und Ideal-verratend bei Mc Donald halten und 30 Minuten auf unseren Fraß warten müssen, fließt mir ein wenig der Zusammenreiß-Schweiß von der Stirn. „Ich wollte mich ja darauf einlassen, aber jetzt will ich es nicht mehr.“ pampe ich, meinen Burger fressend rum. Niemand registriert das, alle essen schweigend weiter. „macht ja nichts“ murmele ich vor mich hin, während mir plötzlich liebevoll über meinen 4-Tage nicht gewaschenen Kopf gestrichen wird "wir sind ja bald zuhause." Ich fühle mich wie zehn und verhalte mich auch so. Zaghaft zuversichtlich schaue ich auf meine bunten Fingernägeln, die immer noch fröhlich im Abendlicht glitzern. Sie haben nichts abbekommen.

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Festival-Verarbeitungsmaßnahmen als Blog-Aktivierung und rasante Berg- und Talfahrt und viel BLA-BLA-BLA. 

Mittwoch, 20. Mai 2015

Der Freiheit zum Trotz



Meine Knie wippen im Takt, meine Arme hängen auf drei Uhr. Ich atme und rotze zugleich und höre dem wummernden Singsang der Menge nach. Es hört sich so an, als würden sich die Stimmen verdoppeln, es hört sich so an, als würde ich langsam verrückt. Der Sound der Extase, von Wut, Trauer und Verzweiflung mischt sich im Raum zu einer Suppe die niemand mehr auslöffeln könnte ohne dabei zu kotzen. Die Dynamik die sich entfalten soll wird in einem zehn Minuten Takt auf Band vorgegeben. Die meditative Phase erfolgt in einer krampfhaften Erstarrung. „Stop“ schreit mir jemand entgegen, ich stelle mir vor, es ist ein kleiner Bhagwan-Heinz in Orange der Stress-Managementseminare bei BMW leitet. Nach zwei Minuten tut mir alles weh. Ich nehme die Hände runter und verändere still und heimlich meine Position. „Lasst euch drauf ein!“ Höre ich in meinem Kopf geistern. Ich will aber nicht. Mein Widerstand fokussiert sich vor allem auf Acharya Rajneesh, Bhagwan Shree Rajneesh und Osho, welche alle drei den gleichen verqueren, spirituellen Guru meinen. Die Abneigung gegen einzelne Halb-Götter hatte mir meine Mutter vermutlich bereits in der pränatalen Phase introduziert. Dazu die eindeutige Haltung, dass ein „Nein, will ich nicht“ eine durchaus legitime Position ist. Abwehrmechanismen als Ressource sowieso.  

Zur Erholung liege ich in meinem abgedunkelten Zimmer und höre Walgesänge aus meinen High-Quality Boxen. Wenn ich die Augen schließe ist es kaum mehr abwegig sich in ein rießen Aquarium zu dissoziieren. Ich schwimme solange, bis ich irgendwo an Glas dotze. Dann schwimme ich wieder zurück. Mein Goldfisch-Leben ist zwar ruhig, aber auch ziemlich stumpf und einengend. 

Später aalen wir uns in Matsch und werfen mit bunten Bauklötzen. Dazu hören wir Kinderlieder und werden vom universitären Machtmännern in Jogginghosen beobachtet. Meine Hände stecken tief in der Scheiße und auch der Rest von mir möchte lieber wieder Erwachsen sein und gehen. Der Mann in der roten Jogginghose mahnt uns zum Abschluss der Massenzurückführung den kindlichen Trotz und die spielerische Freiheit nicht zu verlieren. Er gibt uns eindringlich zu verstehen, dass man nicht immer der Leistungs- und Disziplinargesellschaft hinterher rennen solle. Meine Konsequenz ist, auf meinem fünf Minuten Heimweg schon wieder darüber nachzudenken nie wieder diese Turnhallen-Spielhölle zu betreten. Mein Trotz und meine Freiheit, die sogar ausgeprägt  existieren, sehen sich genau durch diese Gruppen inszenierte Doppelmoral beschränkt. Der Mann in Turnhose und Yachtclub-Hemd, der Freiheit predigt und Anwesenheitslisten auslegt, der einem einen vorgefertigten Stundenplan in die Hand drückt und jede Stunde im belehrenden, erhobenen Lehrer-Zeigefinger-Modus die Postmoderne verflucht ohne diese Begrifflichkeit jemals diskutieren zu lassen. 

Ich rege mich zuviel auf? Vielleicht. Einerseits sehe ich ein, dass eine Abwehrhaltung nicht unbedingt dazu führt, dass Menschen zufriedener sind, gleichzeitig denke ich, genau das braucht es auch. Zeit für Aufregung und Texte zum wieder Abregen. Sogar genug Zeit um besonders schlau klingende Wörter zu googlen. Nicht immer nur im Bahnen drehen im Süßwasser-Aquarium, sondern auch mal kein Bock mehr haben, gequält gucken und sich komplett verweigern. Zum Trotz und für die Freiheit in dieser ach so illustren, postmodernen Lebenswelt. 



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Dazu werden gereicht: frisches Obst und gesundes Gemüse und Cat Stevens, ebenfalls besorgt wegen der bösen, wilden Welt. 

Freitag, 24. April 2015

Kisten voller Handlungsalternativen









„Wir sprechen hier von Kisten voller neuer Optionen. Voller Potential! Wir stellen sie auf, greifen in jede Mal rein und schauen was so passiert!“ Spätestens dann hätte man sagen sollen „Ha, sie sind ja verrückt!“ oder „nein danke, ich bleibe bei meinen alten Brötchen“. Naja, stattdessen wurde man vermutlich nie darüber aufgeklärt was passiert, wenn man ein freier Mensch ist. Nicht das ein Mensch tatsächlich jemals komplett frei sein könnte, aber ich meine hier solche, die zumindest so tun können. Man wurde hinausgeschickt und nicht mal gewarnt. „Seien sie vorsichtig Sie Mensch voller Möglichkeiten, Umkehrschlüssen und Zweifeln!“. Nein, es wurde gesagt „Seien sie jederzeit bereit!“ oder „Greifen Sie nach den Sternen!“. Also greifen wir, einen nach dem anderen. Betrachten Ihn und halten ihn dann für Austauschenswert oder zumindest für nicht strahlend genug. Es liegt nicht (nur) an unserer Versnobt- oder Borniertheit  es liegt (auch) daran, dass wir einfach neugierig sind. Wirft man unseren Großeltern (oder Eltern) möglicherweise vor besonders starrsinning und festgefahren zu sein, so sind wir multiflexibel. Immer auf der Spur nach einer ganz heißen Fährte. Es geht nicht (nur) darum glücklich zu sein (was wir natürlich um jeden Preis wollen), es geht darum, geschmeckt zu haben, zu wissen worum es geht. Bei möglichst vielem. „Zählen Sie uns ihre Stärken und Schwächen auf!“ werden wir standardmäßig in Vorstellungsgesprächen und Assessment Centern gefragt. Wer diese Frage nicht nur wahrheitsgemäß, sonder auch glänzend beantworten will, muss einiges ausprobiert haben. Wer so eine Frage erst gar nicht beantworten will, muss erst recht vieles ausprobieren. Vor uns liegt ein Meer an Faden und Seilen, an denen wir ziehen könnten. Dabei fühlt es sich an, als würden die Fäden viel eher an uns ziehen. "Folgen Sie mir!" oder "Hier entlang!". Klar, es gibt Ruheinseln, es gibt Pausen und Momente in denen wir nicht im Dunkeln tappen. Es gibt kleine Erkenntnisse und Bewältigungsgipfel jeglicher Größe. Es gibt uns Halt, dass wir wissen, irgendwann finden wir uns am Ende doch damit ab, dass wir so oder so verrecken werden. So lange wir uns bewegen, so lange wir nur möglichst viele Kisten geöffnet haben. Überraschungseffekte versuchen wir dabei so lange zu ignorieren bis wir uns der momentanen Ausgangslage stellen müssen. Dabei haben wir immer im Kopf, dass Handlungen bewusst entschieden und nicht von Überraschungseffekten aus dem Ruder geworfen werden sollten. Ambivalenzen also in jeder Hinsicht. Ich starre auf die Kiste die vor meinen Füßen steht. Sie ist groß, enthält allerlei Kleinigkeiten, Unordnung und Chaos und ich wünsche mir nichts lieber als sie zu ordnen. "Du starrst schon seit Unendlichkeiten da rein" spricht mir eine warme Stimme direkt hinter mir. "ja, ich versuche es zu ertragen" stelle ich nüchtern fest. Das irritierte Schulternzucken verletzt mich kurz, dann halte greife ich kurzerhand nach dem Monstrum und stelle es auf die Straße, direkt vor meiner Haustür. "Kiste voller Potential zu Verschenken!" schreibe ich drauf. Soll sich doch jemand anders den Kopf darüber zerbrechen.(Zumindest für heute.) 

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Topic of the week.
Die dazu so schön passenden instagrammten Kisten sind wiederum ein - je nach Spaß & Objekt - Langzeitprojekt. Pick one! 


Sonntag, 22. März 2015

Erfahrungen am eigenen Leib


Ich erlebe den Dienstagmorgen wie er mit großer Anstrengung beginnt. Er beginnt damit, dass ich mich mühsam, wie eine schwerfällige alte Dame aus dem Bett kriechen muss. Gebrechlich, träumend, verwirrt. Ich schleiche ins Bad, zurück in mein Zimmer und muss mich aus- und wieder anziehen. Allein diese Aktivitäten halte ich vor acht Uhr morgens für relativ zumutbar. Aber dann geht es aber erst richtig los. Brot, Butter, irgendwas, kauen, schneller kauen, Wimpern tuschen, wenn es gut läuft noch ein bisschen rouge’ieren. Meistens läuft es nicht gut und ich bin froh wenn ich Schuhe und eine Hose trage. Wenn ich dann um kurz nach acht in der kleinen Turnhalle stehe möchte ich mir am liebsten erst einmal ein Bundesverdienstkreuz verleihen. Also mindestens. Stattdessen bekomme ich jetzt die Aufgabe meinen Körper noch ein bisschen mehr wahrzunehmen, ein bisschen mehr zu spüren, sehr achtsam zu sein, aber meine körperlichen Bedürfnisse so weit zurück zuschrauben, dass ich am Ende völlig wach und präsent bin. Ehrlich, spontan, kritisch, selbstkritisch, mit mir, mit den anderen, spiegelnd, den Spiegel wahrnehmend, auf mich konzentriert, meinen Bedürfnissen entsprechend. Ganz authentisch eben, nur nicht schlafend. Wir tanzen umher wie ein Haufen desolater Tiere. Tiere denen ein Bein fehlt, die deshalb hinken und seltsam im Kreis springen. Nachdem ich oder die Turnhalle nach Schweiß stinkt, habe ich nach ein paar animalischen Bewegungen die eher einer schlafenden Katze ähneln, bereits meine körperliche Höchstgrenze erreicht. Ich halte es für eine Höchstleitung was wir hier machen, ich halte es für unerklärlich, dass wir hier trotzdem immer wieder auftauchen, im Kreis sitzen und nicht heimlich den Raum verlassen. Das Konzept scheint also zu funktionieren. Ich zerbreche weder, noch schlafe ich ein, halte mich wacker, öffne und verschließe mich wieder. Erst herrscht lange Stille, dann fängt es langsam an zu jucken und am Ende wird überall aufgekratzt. Manchmal blutet es dann, tropft wie ein trauriges Rinnsal durch den Kreis und jeder der will oder kann leckt mal ein bisschen daran. Dann geht es wieder zurück. Aus der Turnhalle, in die reale Welt, zurück in mein Bett. Dort bin nur ich, mit meinen trägen Beinen, meinen schweren Muskeln und kreisenden Gedanken. Nach ein paar Mal tiefem Ausatmen schlafe ich bereits tief und fest. Am Ende - und damit meine ich die überstandenen Selbst-Erfahrungen, die von verkrümmten Bewegungen, über offne Ohren, verständnisvolle und missverständliche Blicke und Worte reichten - ist es 12 Uhr mittags und mein Körper siegt über den verwirrten Geist.   


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Rückblickende Verarbeitung von frühmorgendlichen Uni-Experimenten. 

Dienstag, 17. März 2015

Talking about… xocóatl!


und zur Abwechslung mal wieder was (ganz) Seichtes: 

Zwar ist der Schokoladen-Hype, den vermutlich irgendwann einmal von den Azteken angezettelt wurde, in meinen gesellschaftlich - vermeintlich intellektuellen - Kreisen groß (ich vermute die Assoziation Stress- und Nervennahrung kommt euch sofort) und auf Wikipedia werden immerhin 8 Spiel- und Dokumentarfilme und sechs Schokoladenmuseen (allein in Deutschland und Österreich) gelistet, Schokolade und ich haben aber eher ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Es gab sogar mal eine Zeit, da habe wir uns gar nicht verstanden und es auch vermieden uns zu sehen. Denn die Sache ist, entweder esse ich sie auf (komplett) oder ich lasse es einfach sein. Heute lasse ich es also nicht einfach sein. Viel eher lade sie fast täglich zu mir ein und verspeise sie so wie ein läppisches Butterbrot, oder sagen wir lieber gleich, wie die Butter eines Butterbrots (siehe hier auch den Butter-Post). Macht auch Sinn der Vergleich, immerhin befinden sich ganze 18-28g Kakaobutter in einer 100g Tafel Schokolade. Was man – außer Tafeln - sonst alles mit Fett und Kakao machen kann wisst ihr vermutlich, vermutlich nämlich alles. Bei meinem Konsum halte ich mich nicht (nur) mit den billigen Zeitgenossen auf und verweise wie bei allen guten Lebensmitteln auf ihre gesellschaftliche Bedeutung (immerhin waren Kakaobohnen sogar mal Zahlungsmittel). Lindt & Sprüngli  - als Prestigeobjekt - kommt also in meine versnobten Gaumenwände und verbreitet sich dort innerhalb kürzester Zeit zu sahnigem Brei. Diese Schweizer-Qualitäts-Tafel (100g) besteht zwar zu ihrer Hälfte (51g) aus Fett, ist aber tatsächlich so „unendlich zartschmelzend“ wie es sich die Macher – ich meine natürlich die métiers de chocolatiers – gedacht haben. Die Schweizer wissen zwar wie es geht - was man auch in ihrem Konsumverhalten, welches sie nach Deutschland im Schokoladenverzehr pro Kopf anführen, sieht - dennoch scheint Lindt keinen unabhängigen Überprüfungsanspruch zu haben. Woher das Fett zum Zartschmelz also kommt, bleibt vermutlich für immer ein großes Geheimnis. Wenn Lindt keine Zeit hat gibt es immer noch das halbleere Nussnugat Creme für 1,50€ im Regal. Es ist zäh und pampig, viel zu süß und eben kein Lindt & Sprüngli. Trotzdem wartet es dort geduldig und freut sich in meinem Bett gelöffelt zu werden. Schokolade soll angeblich so was wie ein Stimmungsmacher und Aufputschmittel sein, nach unseren meist sehr kurzweiligen Treffen ist meine Stimmung meist jedoch nicht viel besser als vorher, die Zähne dreckig und der Glukosewert so hoch, dass er nicht mehr abgebaut werden kann und direkt in meine Hüften wandert. Dort ist Nussnugatcreme genauso wenig wert wie Lindt & Sprüngli. Die Hüftebene kennt eben keine gesellschaftlichen Unterschiede und scheißt auf Zartschmelz, conchieren, Kokosmilch und dem ganzen fettigen Rest. Nun, immerhin senkt Schokolade unter Umständen (wenn man von all dem Fett nicht ziemlich breit geworden ist) das Blut und es wurde ebenfalls bewiesen (soso), dass zwischen Schokolade und Pickel kein direkter Zusammenhang besteht. Wie schön zu hören.

Mittwoch, 21. Januar 2015

"hatten wir uns irgendwie ganz anders vorgestellt"



Wir sitzen in einem fahrenden Untersatz, aber eigentlich befinden wir uns viel eher in einer Art Vorhölle, eine die Freitagnacht, zwischen Frankfurt und Marburg tagt und darüber entscheidet, ob man dich zur Erholung in einen geschlossenen, rosa Raum oder doch lieber in ein einsames Retreat schicken sollte. Keine Ahnung, wer das nachher entscheidet, aber fest steht, die Gefahr durchzudrehen steigt pro Fahrgast und Fahne. Der ganze Zug ist eine einzige Fahne, in der drei Millionen Fahnenträger quasi Mund an Mund stehen. Der fahrbare Untersatz schwankt verdächtig, die Insassen fallen reihenweise um und verdächtig nahe in meine Comfortzone. Durch diesen Umstand bedrängt, ballt nicht nur mein ebenfalls tendenziell betrunkener Mitfahrer seine Faust. Ich stelle mir vor ich wäre auf einer einsamen Insel, während die 2,5 Promiller anfangen den halben Zug auseinander zu nehmen. Sie schmeißen mit vollen Bierdosen und rempeln ihre eh schon relativ deformierten, relativ fettleibigen Körper gegeneinander. Dabei schreien sie „heeey“, „eeyyyy“, „booar“, „auf die Fresse?“ und andere Äußerungen die es schaffen, gleichzeitig sexistisch, homophob, chauvinistisch, rechtspopulistisch, ausländerfeindlich und ordinär zu sein. Ok, wenn man kurz nachdenkt, ist es gar nicht so schwer alle diese Kategorien gleichzeitig zu vergeben. „Relativ dumm“ ist jedenfalls, nachdem ich launenhaft alle möglichen anderen Adjektive leise vor mich aufzähle, die Überkategorie die es kurz zusammenfasst. Ich lächele über diese Weisheit, da höre ich einen der dicken Wampen neben mir wieder schreien „ey!“ damit bin diesmal ich gemeint. „ja bitte?“ frage ich höflich und vermute mich dabei direkt als einzig Nüchterne im ganzen Zug geoutet zu haben. Es folgt ein Schwall Kategorie dumme Wörter, mein Sitznachbar ist kurz davor der Wappe, die ein viel zu enges Fußballs-Shirt ziert, einen ordentlichen Tritt zu verpassen. Ich mache ihm vorsichtig den Vorschlag vielleicht lieber auf eine kleine Traumreise zu gehen, aber als Antwort rollt er nur mit den Augen. Auch er hat einige Biere getrunken, ist vermutlich aber immer noch nüchterner als dieser fahrbare Untersatz jemals war. Die fünf Fussballfans, denen hin und wieder ein Bier-, Spuck- und oder Kotzfaden aus dem Mund hängt, fangen wieder an zu diskutieren. Welcher Verein hat bessere Chancen auf einen Abstieg, welche Stadt ist hässlicher, welches Bier billiger. Ich lausche und versuche gleichzeitig völlig desinteressiert zu wirken. Scheitere damit. „ey! Is alles nur Spasss!“ nähern sich die Bierspucker immer wieder mir und meinem Pommes essenden Sitznachbar, der bei jedem Majotropfen auf seiner Jacke einen erneuten Lacher kassierte und jetzt grimmig neben mir hängt. „is Spasss, der muss verstanden werden“, „is ja kein ernst, ist ja nur Jux...“. Das Abteil nickt kollektiv mit dem Kopf. "will ja niemand Ärger, hamwa ja schon genuch!" schwadroniert einer der Meute, der in der nächsten Sekunde einfach vorne über fällt. Die Spuckenden lachen, fühlen sich bestätigt, krakeelen weiter durch die vorweihnachtlich-besinnliche Weihnachtsnacht. Der Rest – hunderttausend Weihnachtsmarktgänger, denen hin und wieder ein Glühwein-, Spuck- und oder Kotzfaden aus dem Mund hängt – schaut andächtig bis belustigt, immer nur so lange bis ein Stück Fußballspucke an ihre glitzernde Wange fliegt. Dann schauen die mit Glühwein verklebten Münder plötzlich ziemlich säuerlich drein, wagen es aber nicht etwas zu sagen, schütteln nur vorsichtig ihre mit Mützen behangene Köpfe. Manchmal hört man nur ein leises Stöhnen und ein fast lautloses Wimmern. Auch sie hatten es sich irgendwie  ganz anders vorgestellt.

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Kurz vor knapp ins neue Jahr gekommen, dass (laut astrologischen Vorhersagen meiner Mutter) ab September (schon) wieder viel lustiger, spontaner und zweifelsfreier wird. Na Halleluja!