"Einmal, da habe ich mir quasi eine Rippe aus dem Knöchel geschnitten (oder mich mit einem
bissigen Hai anlegt!). Ein anderes Mal fühlte ich meine Hand nicht
mehr und seit vorgestern scheint sich auch noch das Gefühl in meinem
Schienenbein verabschiedet zu haben..."
Dass
ich ausgerechnet Körperpsychotherapie studiere, erscheint da erst einmal
recht widersprüchlich. Immerhin scheine ich ein - sagen wir - ambivalentes
Körper- (und Leib-) Verhältnis zu haben. Aber immerhin, ich scheine das
inzwischen begriffen zu haben! Ich denke, inzwischen kenne ich mich so
gut, dass ich weiß, dass auch der Körper mein ist. Ich wüsste, wenn ich friere,
was zu tun ist. Ich wüsste, wenn mein Magen knurrt oder mir latent
schlecht ist, was zu tun ist. Ich wüsste, wenn ein Körperteil kribbelt, was zu
tun ist. Wenn es juckt, was zu tun ist. Ich wüsste es, tue es aber selten. Ich
überlege mir theoretische Konstrukte - die meine kognitiven Fähigkeiten bei
weitem überschreiten - zur Heilung meiner Kopfschmerzen. Ich schreibe
Schmerzprotokolle und recherchiere nach den bestmöglichen Optionen, ich
mache To-Do Listen, ich bastele eine symbolische Collage, ich schreibe
einen Text darüber, entwickle ein komplettes Therapie-Konzept für
Wochenend-Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerz. Für Prä- und
Postmenstruelle Kopfschmerzen. Ich lege mich nicht aufs Bett, schließe nicht die
Augen und ziehe auch nicht den Stecker. Ich möchte den Schmerz verstehen, statt ihn zum
Gehen aufzufordern. Ich möchte, dass er für etwas gut ist. So wie ich am liebsten jedes Störungsbild mal probeweise
für einen Abend austesten würde, nur damit ich mich besonders gut in jeden
Menschen hinein versetzen könnte. Und dabei halte ich mich jetzt schon für eine
Expertin für jegliche Störungsbilder. Ich denke wirklich, dass ich mich nur
tief genug mit Krankheiten beschäftigen müsste, damit die Welt ein bisschen
erklärbarer wird. So wie andere Menschen ihre Angst vor dem Unbekannten in
Rassismus oder einer Zwangsstörung äußern, möchte ich alle verstehen lernen.
Dazu zählt nicht nur was PTBS oder MD heißt, sondern auch zu wissen, wie sich
Kopfschmerz und ein taubes Bein anfühlt. Es ist dabei nicht so, dass ich
mir unbedingt wünschte, ein taubes Bein zu haben oder es vielleicht sogar absichtlich betäuben
würde. Aber wenn es einmal da ist, springt in mir - nach einem kurzen Schreck - schnell ein Schalter um.
Schon befinde ich mich im - sagen wir im kreativen - Forscher-Modus. Wie lange
braucht eine klaffende Wunde zum Heilen? Wie viele Adjektive können Müdigkeit beschreiben? Wie fühlt es sich an, ein taubes
Bein zu rasieren? Wie lange muss man kratzen bis es blutet? Wie
visualisiert man Migräne? Wie beschreibt man Depressionen? Ich habe darauf
jede Menge Antworten - die alle kaum etwas mit biologisch, chemischen oder
physikalischen Faktoren zu tun haben. Denn alles, was mit den
"tatsächlichen" Prozessen im Körper zu tun hat, finde ich abstoßend
bis ekelhaft. Was aber auch einen gewissen Reiz hat. Als Kind blätterte
ich immerhin ziemlich regelmäßig durch das zerfledderte Anatomie-Buch,
dass ich nun wieder heraus gekramt habe. Oder sezierte meine Haare
im Mikroskop. Auch heute schauert es mich etwas bei der Vorstellung der
seltsam ekelhaften Strukturen, die angeblich meine Haaren gewesen sein sollen.
Meine Angst ist dabei vermutlich auch, dass diese Vorgänge kaum mehr
kontrollierbar scheinen. Ich habe Angst, dass ich meinen Einfluss nicht an
Mitochondrien testen könnte, dass sie nicht auf mich reagieren und mich im
Regen stehen lassen, wenn ich sie bitte irgendwas für mich zu tun. Da fängt aber auch schon das wirkliche Problem an, denn ich habe keine Ahnung was sie
für mich tun könnten. Ich habe keine Ahnung ob sie bei Prozessen wie Migräne
und Neurodermitis beteiligt sind. Natürlich, ich kann sie googlen, kann
lernen, dass sie "die Kraftwerke“ der
Zellen bezeichnet werden und dass ohne sie so ziemlich nichts passiert. Aber
ich verstehe das nicht. Sie sind mir viel zu unsichtbar. Ich weiß sehr
wohl um den Zusammenhang zwischen anatomischen und psychischem Körper,
aber ich kann ihn nicht spüren. Ich spüre meine kalten Hände,
meinen bewölkten Kopf und meine Füße fest auf dem Boden, aber ich will
nicht wissen welches Mitochondrium dafür verantwortlich ist. Ich finde es viel
interessanter wo her der Körper kommt und was er erlebt hat, den jeder Körper kann
Geschichten erzählen. Von klaffenden Wunden bis Perlenohrringen, alles scheint
irgendwie wichtiger als der Aufbau einer Zelle. Ich weiß, dass ich damit
unrecht habe, aber ich spüre, dass es mir egal ist. Und es ist nicht so als
würde ich nichts spüren! Im Gegenteil, ich bin äußerst sensibel wenn es um mich
- meinen Körper - geht. Ich leide viel, ich rede und schreibe viel darüber
(merkt man kaum!). Ich merke wenn man mir - meinem Körper- auf die Pelle
rückt, merke, wenn ich mich - meinen Körper - nicht leiden kann, wenn ich in den
Spiegel gucke und mich - meinen Körper - am liebsten gegen ein nicht
jammerndes Kamel tauschen würde. Ich merke, dass es gut tut, mehr in den
Füßen zu spüren, als in bewölkten Kopfregionen zu wandern, spüre, dass es
heilsam ist zu essen und zu schlafen wenn ich es brauche. Dass es heilsam
ist, meinen Körper auch mal loszulassen, ihn weniger als
Forschungsinstrument zu nutzen, ihn mehr zu schätzen und lieben zu lernen.
Das "verstehen" nicht "erlebt haben" heißt, weiß ich. Auch, dass ich nicht alles - dass ich nicht jeden - verstehen kann. Trotzdem bin ich immer
wieder überrascht, wenn genau das passiert. Wenn ich plötzlich und völlig unvorbereitet am Ende meines nicht
vorhandenen Lateins bin und mir keinen Reim darauf machen kann, wie sich
eine Person fühlt. Was sie spürt, wie es sich anfühlt. Dass ich nichts dazu sagen und nichts dagegen tun
kann. Keinen Rat geben, keine Sorgen teilen kann. Nicht mal mehr eine extrastarke Ibu reichen kann. Und weil dieses Gefühl für mich so schrecklich unerträglich ist,
fange ich überdramatisch an, von meinen vermutlich ziemlich harmlosen Körperstörungen zu erzählen.
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Text als therapeutische Maßnahme dieser Woche.